Der Schrei nach Politik

Hanno Burmester
6 min readMar 16, 2021

Warum wir transformative Parteien brauchen

Am 26. März 2021 erscheint ein Buch, das ich im Sommer 2020 in kreativer Höchstleistung gemeinsam mit Clemens Holtmann geschrieben habe: Liebeserklärung an eine Partei, die es noch nicht gibt.

Das Buch skizziert, wie eine Partei aussehen kann, die das ist, was politische Parteien heute nicht sind: europäisch, kollaborativ, digital. Und eben transformativ, ausgerichtet auf Politik, die Grundlegendes entscheidet und regelt, anstatt sich im Optimieren innerhalb des bestehenden Rahmens zu verlieren.

Die Einleitung des Buches haben wir “Schrei nach Politik” genannt. Weil wir glauben, dass wir unbedingt Politik und politische Parteien brauchen, um die existenziellen Probleme unserer Zeit bewältigen zu können.

Einen Auszug aus dieser Einleitung findet Ihr hier. Als Kostprobe, sozusagen. Wer das lieber im Buchformat lesen will, kann das hier unter “Jetzt reinlesen” tun.

Für Politik, die grundsätzlich streitet

“Unsere Zeit schreit nach Politik. Ob Klimakrise oder das absurde Ausmaß globaler und nationaler Ungleichheit: Vor diesen existenziellen Herausforderungen stehen wir, weil politische Entscheider:innen und Institutionen sich ihrer Kernaufgabe verweigern. Seit Jahrzehnten ist die Politik viel zu häufig Sachwalterin kurzfristiger, meist einseitiger ökonomischer Interessen. Sie schützt die Interessen der Wenigen zum Schaden der Vielen. Diese Art von Politik verweist routiniert auf angebliche Sachzwänge und Alternativlosigkeiten und hat sich eingeruckelt als Lobbyistin eines Status quo, der eigentlich keiner sein dürfte.

Dabei ruft alles nach etwas ganz anderem. Nämlich nach einer Politik, die grundsätzlich darüber streitet, welche neuen Spielregeln wir brauchen, um der Menschheit und anderen Spezies langfristig ein gutes Leben zu ermöglichen. Politik, die bereit ist, auf die durch uns veränderten ökologischen Rahmenbedingungen mit einem grundlegenden Wandel der weltweiten ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen zu reagieren. Politik, die gestaltet, was gestaltet gehört.

Kann sie gar nicht? Doch, kann sie. Die Finanzkrise in den Jahren ab 2008 und die Coronakrise haben gezeigt: Wenn Politik will, kann sie schnell Grundlegendes entscheiden. Und sei es nur, Hunderte Milliarden für den Erhalt des Status quo auszugeben. Wo es vorher unmöglich war, sich auf nennenswerte Investitionen für ökologische und soziale Verbesserungen und dazu passende Strukturreformen zu einigen, wurden in Krisenzeiten plötzlich Billionen Euro locker gemacht, um den Status quo zu stützen. Entscheidungen, die im Normalmodus undenkbar gewesen wären, wurden quasi über Nacht gefällt.

In beiden Krisen schien es, als sei die Politik wachgerüttelt worden. Für kurze Zeit war nichts zu hören von ihrer angeblichen Machtlosigkeit, von angeblichen und tatsächlichen Sachzwängen. Stattdessen erlebten wir hellwache politische Entscheidungsträger:innen, die von Jetzt auf Gleich im Hyper-Gestaltungsmodus unterwegs waren. Und das in ebendem Handlungsrahmen, der ansonsten immer als Grund angeführt wird, warum echte, wirkmächtige Politik angeblich unmöglich sei.

Wo sind die politischen Kräfte für die Transformation?

Wenn ein kollabierendes Spekulationssystem und eine Pandemie solche Musterbrüche möglich machen — wieso geschieht das nicht in Reaktion auf die ökologischen und sozialen Krisen unserer Zeit? Wieso ist die Armut und Perspektivlosigkeit von Hunderten Millionen Menschen, nur ein paar Flugstunden entfernt, kein Anlass zu solch entschlossenem Handeln? Und das durch uns verursachte Massensterben anderer Lebewesen, der enthemmte Verbrauch von Luft, Wasser und Boden und die nicht umkehrbare Veränderung des Klimas — wieso hat all das nicht schon längst vergleichbare Panikbeschlüsse ermöglicht?

Die Antwort ist einfach: Weil es an politischen Kräften fehlt, die es als ihre Aufgabe sehen, sich für einen radikalen und grundsätzlichen Wandel einzusetzen. Weil den etablierten Kräften der Wille und der Mut fehlen, die Wurzel der Probleme unserer Zeit zu benennen und anzupacken. Weil an entscheidender Stelle die politischen Akteur:innen mit transformativen Ideen fehlen; Ideen, die einen echten Beitrag für eine lebenswerte Zukunft leisten könnten. Und es mangelt an Persönlichkeiten, die als Gesicht für die Forderung nach fundamentalem Wandel dienen können und wollen. Es fehlen, kurz gesagt, die Organisationen, Ideen und Köpfe, die wir für echte Veränderung brauchen.

Nun kann man einwenden: „Aber es gibt doch Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion. Die wollen doch genau das.” Ja klar, die gibt es. Und sie setzen wertvolle Impulse. Mit ihren Protesten treiben sie die Debatte an und zwingen die politisch Mächtigen, sich zu positionieren. Aber genau das ist auch das Problem. Gerade weil Bewegungen sich als Gegengewicht zur Macht verstehen, fällt es ihnen so schwer, selbst nach der Macht zu greifen. Sie sind also auf den guten Willen, die Einsicht oder das Nachgeben derjenigen angewiesen, gegen die sie auf die Straße gehen. Ohne solide Verankerung und Machtbasis in politischen Institutionen fehlt ihnen die politische Firepower, um selber etwas zu verändern. Ohne klare Führungsstrukturen und ohne Agenda über ihr Fokusthema hinaus schaffen sie es nicht, eine kritische Masse zu mobilisieren, um Parteien zum Umlenken zu zwingen. Mit ihren Forderungen stoßen Bewegungen immer und immer wieder an eine gläserne Decke, die sie nicht durchbrechen können. Und selbst wenn sie einmal einen kleinen Sieg erringen, verändern sie nicht die Machtverhältnisse und grundlegenden Logiken der Politik.

Bewegungen geben also wertvolle Impulse und eröffnen Raum für neue politische Forderungen. Aber da endet in den meisten Fällen ihr Einfluss. Wir glauben deshalb, dass es zusätzlich etwas anderes braucht. Nämlich politische Parteien, die eine grundsätzliche Veränderungsagenda haben — und diese Agenda auch mittel- und langfristig im politischen Raum repräsentieren und durchsetzen.

Parteien, die sich als Wegbereiterinnen einer Zukunft verstehen, die nicht nur für die jetzt lebenden Generationen innerhalb der deutschen Grenzen lebensfähig ist. Parteien, die nicht die Augen verschließen vor der von uns in den letzten Jahrzehnten geschaffenen Realität — sondern die Verantwortung akzeptieren, die mit dieser Realität einhergeht, und grundsätzlich umlenken. Und, vielleicht am wichtigsten: Parteien, die von der Bevölkerung den politischen Auftrag erhalten, grundlegende Veränderungen zu beschließen und umzusetzen.

Diesen Auftrag können Bewegungen nicht bekommen. Einfach weil sie Bewegungen sind und keine Parteien. Sie stehen nicht zur Wahl, können also nicht in Parlamente einziehen, können keine Gesetze verabschieden und keine Verordnungen erlassen. Für all das braucht es Parteien. Deshalb müssen wir, wenn wir über grundlegende Veränderungen sprechen, über politische Parteien sprechen. Ohne sie geht es in einer parlamentarischen Demokratie nicht.

Transformative Politik braucht neue Parteien

Mit ihnen zur Zeit aber auch nicht. Und damit wären wir auch schon beim Thema dieses Buches. Wir glauben nämlich, dass Parteien, wie wir sie heute kennen, nicht in der Lage sind, Grundlegendes zu verändern. Warum? Weil sie befallen sind vom Inkrementalismus. Sie verstehen Politik als Kunst der Trippelschritte, als scheibchenweise Veränderung innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen. Den Rahmen selbst — den stellen sie hingegen nicht in Frage. Das kommt auch daher, dass sie sich vor allem mit sich selbst beschäftigen, nicht mit unserer Zukunft. Sie organisieren vor allem das Gespräch Gleichdenkender statt echten gesellschaftlichen Dialog. Sie führen nicht, sie inspirieren nicht, sie begeistern nicht. Ihr Modus des Miteinanders und der Zusammenarbeit macht echte, kreative Zusammenarbeit und das Entwickeln neuer Ideen fast unmöglich. Vor allem, weil ihre Organisationen für ein vergangenes Zeitalter gebaut sind.

Das ist unsere Erfahrung und Ausgangsthese: Das Selbst- und Politikverständnis sowie die Führungs-, Organisations-, Gesprächs- und Entscheidungsstrukturen klassischer Parteien machen es ihnen unmöglich, die Ideen, Persönlichkeiten und Entscheidungen hervorzubringen, die unsere Gesellschaft dringend braucht. Die Art und Weise, wie Parteien funktionieren, hält diejenigen, die sich dort engagieren, unter Potenzial. Das Ganze ist dort nicht mehr als die Summe seiner Teile, sondern weniger. Das mag hart klingen. Und es tut uns auch weh, das so zu schreiben. Schließlich haben wir in den letzten Jahren viele engagierte, tolle Parteiaktive kennengelernt, die für ihre Arbeit nichts als Zuspruch verdienen. Ihre Arbeit wollen wir nicht abwerten. Gleichzeitig sind wir davon überzeugt, dass diese Menschen nicht die Organisationen haben, die sie — und die Herausforderungen unserer Zeit — verdienen.

Trotzdem glauben wir an das Gestaltungspotenzial politischer Parteien. Ihre Kernidee ist weiterhin zeitgemäß: ein wirkmächtiger Zusammenschluss von Menschen, die eine gemeinsame Veränderungsidee verfolgen und politisch durchsetzen. Eine Organisation, die als Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Staat funktioniert und gesellschaftliche Bedürfnisse in politische Veränderung übersetzt. All das brauchen wir, vielleicht mehr denn je. Aber es braucht eine Interpretation dieser Idee, die zu unserer Zeit passt. Im Wissen um die großen Themen unserer Zeit müssen Parteien aus unserer Sicht dringend neue Visionen mit der und für die Gesellschaft entwickeln. Sie müssen Ideen für grundlegende Reformen ausarbeiten, auf den Weg bringen und die Strukturen, Institutionen und Prozesse unserer Gesellschaft verändern. Sie müssen erklären, Orientierung und Halt bieten, aber auch führen und mit Mut vorangehen.

Bei aller Kritik am beklagenswerten politischen Status quo: Wir haben bislang keine tragfähige Idee kennengelernt, die politische Parteien langfristig ersetzen könnte. Deshalb halten wir es für umso wichtiger, eine zeitgemäße Partei zu bauen, die das politische und organisatorische Zeug dazu hat, sich der Herausforderungen unserer Zeit grundsätzlich anzunehmen. Wie das gehen kann — das beschreibt dieses Buch. Wir skizzieren eine Partei, die es (noch) nicht gibt. Eine neue politische Kraft, die die Herausforderungen an den Wurzeln packt und sich beherzt den gigantischen ökologischen und gesellschaftlichen Problemen stellt. Eine Partei, die im Inneren das vorlebt, was sie im Außen befördern möchte. Mit hartnäckigem Fokus auf gesellschaftliche Wirksamkeit und grundsätzliche Veränderungen. Mit Mut, permanent Neues zu lernen, offen zuzuhören und gleichzeitig im Kern eindeutig verortet zu sein. Mit Kultur und Struktur, die Zusammenarbeit befördern statt Wettbewerb. Virtuell und analog. Aktiv und hochgradig dezentral. Eine Partei, die tief idealistisch ist und gleichzeitig die Realität akzeptiert, die sie verändern möchte.”

Das Buch kannst Du hier vorbestellen. Am besten gleich doppelt, dann kannst Du es verschenken :)

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Hanno Burmester

Thinking about system change; Author and organisational developer. More@hannoburmester.com