Vom Ende der Hoffnung

Keynote zur Postwachstumsökonomie beim isb Nord, Hamburg, 9.9.2023

Hanno Burmester
14 min readSep 13, 2023

“Im Anthropozän zu leben bedeutet, anderen das Gespür dafür zu vermitteln, dass die Konsequenzen ihres Handelns auf sie selbst zurückfallen und sie heimsuchen werden” (Bruno Latour, Kampf um Gaia, S. 243)

Das Video meiner Keynote findet Ihr hier (Keynote ab Minute 2:30).

Stellt Euch vor: ein Haus. Um es zu bauen, wurde der bedingungslose Krieg erklärt. Es wurden Bäume geschlagen, Nester vernichtet, Erdreich versiegelt, Pflanzen entwurzelt, Sand heimatlos gemacht, Stahl aus der Erde gebrochen.

Irgendwann, vor ein paar Jahrzehnten, wurde das Haus bezogen. Die Bewohner machten sich über Jahre daran, das Haus auszustatten.

Schlaglichter: die Bank in der Küche war mal ein Mangobaum in Indonesien. Für den Stein der Arbeitsplatte wurde ein Berg in Italien abgetragen. Der Plastikstuhl neben der Küchentür war vor 600 Millionen Jahren mal Phytoplankton, Algen, Sediment, mit Mühe befördert aus den Tiefen der Erde, unter Verwendung von Unmengen von Chemikalien und Grundwasser. Der Kork hinter der Arbeitsfläche der Küche hat einmal schützend eine katalanische Eiche ummantelt.

So ging es Zimmer für Zimmer weiter. In den Dienst gezwungenes Leben, befreit von seiner Vergangenheit.

Auch im Garten machten die Hausbewohner es sich schön: Natur war dort das, was sie als solche erlaubten. Die Bäume wichen Rasen. Die Pflanzen, die weiter leben durften, mussten nützlich sein, sei es als Spenderin von Schatten oder Obst. Der Rest wurde durchgeschnitten, vergiftet, mit Salz verätzt. Das Grundwasser wanderte vom Dunklen in die blaue Endlichkeit eines kleinen Pools. Anderes, nicht-pflanzliches Leben bekam enge Spielregeln: friss nichts vom Obst oder Gemüse. Mach den Rasen nicht kaputt. Scheiß nicht auf die Gartenmöbel. Mach keinen Lärm auf dem Dach. Ansonsten sieh Dich vor, denn unser menschliches Strafregime kennt keine Grenzen.

Die Landnahme dieses unschuldigen Ortes wäre immer weiter gegangen. Doch eines Tages beginnt das Haus zu brennen. Erst schmort es, dann raucht es, dann brennt es. Zuerst sind es kleine Feuerszungen, die sich durch ein Zimmer fressen. Dann greift das Feuer weiter um sich, springt von Zimmer zu Zimmer.

Und was machen die Hausbewohner? Sie versammeln sich in aller Ruhe im Garten. Eine stellt die Frage: es brennt, oder? Ein zögerliches Gespräch beginnt: Es brennt. Ja, es brennt! Tatsächlich, es brennt.

Einer beginnt, das Feuer genau zu beschreiben. Die nächste sagt erstaunlich genau vorher, wie das Feuer sich weiter ausbreiten wird. Die nächsten analysieren, welche negativen Nebenwirkungen das Feuer für sie wohl haben wird. Irgendwann beginnen zwei der Bewohner, zögerlich einige Hände Erde ins Feuer zu werfen. Einer spuckt in Richtung der Flammen. Die anderen verdrehen die Augen. Die einen, weil sie die Reaktion für überzogen hysterisch halten. Die anderen sagen, man könne sowieso nichts tun.

Alles tun also etwas. Tatsächlich ist die Gruppe der Hausbewohner dabei sogar hochgradig besorgt. Und doch unternimmt keiner ernsthafte Versuche, das Feuer zu löschen. Währenddessen geht unwiderruflich all das in Flammen auf, was der Erde in den Jahren zuvor mit Gewalt entrissen worden ist.

Die Bühne wird zur Akteurin

In dieser Szene ist das Undenkbare ist passiert: das Haus, das die Bewohner bislang für ihre Bühne gehalten haben, ist plötzlich zur Akteurin geworden. Der Hintergrund bewegt sich, zerreißt den erdachten Plot, ignoriert alle Rollen, entzieht sich jeder Einflussnahme durch diejenigen, die bislang dachten, sie könnten das Spiel bestimmen.

In unserer Zeit erkennen wir diese kleine Szene im Großen wieder. Immer mehr menschliche Gesellschaften haben sich der Ideologie des Wachstums angeschlossen, der Ausbeutung und Ordnung der Welt im Sinne des kurzfristigen materiellen Nutzens. Immer enthemmter haben wir unser zivilisatorisches Haus ausgebaut, getreu nach dem Motto: noch ein bisschen mehr. Noch ein bisschen mehr. Ein historisches Extrem, ursprünglich das Privileg einiger weniger plündernder, mordender und ausbeutender Gesellschaften, wurde zum globalen Normal.

Nun brennt das Haus. Die Bühne spielt plötzlich mit. All das, was sich bislang still und wehrlos hat ausbeuten lassen, macht sich bemerkbar, in Form von Feuern, Stürmen, Fluten, Dürren, Erosion, oder schlicht Stille und Leere. Und doch tun wir nichts. So wie die Bewohner des Hauses im Kleinen, schauen wir kollektiv gebannt auf den Zerfall der Bühne der Moderne. Wir analysieren, prognostizieren, versuchen hier und da Gegenmaßnahmen.

Der Zustand der sorg- und geschichtslosen Selbstfixiertheit weicht der Selbstfixiertheit der Sorge. Anderer Zustand, selbes Ergebnis: Es geht weiter nur um uns selbst, unser Wohlergehen, unser Überleben. All das paart sich mit einer Jahr für Jahr weiter entgrenzten Plünderung und Ausbeutung all dessen, was nicht „menschlich“ ist.

Wir hinterlassen das, was wir ausgelöscht haben

Wir verhalten uns, als seien wir nicht nur der Geschichte, sondern auch der Materialität der Erde enthoben. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil unser exzessiver Lebensstil unmittelbar auf der organischen Substanz der letzten — buchstäblich — hunderte Millionen von Jahren fußt. All die fossilen Energieträger, wir heute verbrennen, waren einmal Milliarden und Abermilliarden von Lebewesen: Phytoplankton, Zooplankton, vermischt mit Algen, Pflanzen, unter anderem. Unsere Lebensform beruht auf dem Leben, das über Millionen Jahre gelebt hat und gestorben ist.

Werden die Lebewesen der Zukunft ähnlich nonchalant mit unseren Überresten umgehen? Wozu werden wir nützlich sein, wenn wir nicht mehr sind als organischer Abdruck? Die Antwort erdet, im Sinne des Wortes.

Absehbar werden die Spuren der menschlichen Zivilisation in etwa fünf Millionen Jahren vollständig getilgt sein. Vielleicht ist es auch in einer Million Jahre so weit, ganz sicher kann man nicht sein. Vermutlich gibt es noch ein paar unzersetzbare chemische Verbindungen in den Böden dieser zukünftigen Welt, radioaktive Strahlung hier und da. Und vielleicht erinnert die ein oder andere Erhebung oder Senke in der Landschaft daran, dass hier mal ausgestorbene Lebewesen gegraben oder gebaut haben. Aber mehr wird es nicht sein. Die Hybris unserer Zeit, der überzogene Glaube an die Bedeutung unserer Spezies — nichts wird bleiben davon. Unser langfristiger Wert liegt also absehbar deutlich unter dem des Phytoplankton, das vor fünfzig oder dreihundert Millionen Jahren für den Betrieb unserer Laubbläser gestorben ist.

Wobei, Moment. Natürlich wird der moderne, aufgeklärte Teil des Menschheit etwas Bleibendes hinterlassen. Nämlich all die Lücken, die entstanden durch das Leben, das wir ausgelöscht haben und in den nächsten Dekaden auslöschen werden. Der zukünftige Planet wird in dem, was nicht ist, von dem geformt sein, was wir in einem historischen Wimpernschlag getan haben; das von uns ausgelöschte Leben, das sich nach seinem Ende nicht weiter entwickeln konnte, fehlt auf immer.

Anders gesagt, und darauf will ich hinaus, ist unsere Frage gar nicht, ob wir als Menschheit untergehen. Die Frage ist nur das Wann und Wie. Darauf haben wir Einfluss.

Grund genug also, jetzt etwas dafür zu tun, dass die Lücke des getilgten Lebens, die wir heute in aufmerksamen Momenten als stetig wachsende Stille und Leere erleben, nicht noch größer wird, als sie ohnehin schon ist.

Die Hoffnung fahren lassen

Dem wird keiner ernsthaft widersprechen. Und dennoch täuschen wir aktuell vor allem an: wir tun so, als würden wir etwas gegen die ökosystemische Polykrise tun, während die enthemmte Ressourcen-Ausbeutung tatsächlich stetig weiter zunimmt und noch die letzten Grenzen zu verschieben droht. Die CO2-Emissionen steigen, die versiegelten Landflächen ebenso, die Zahl der abgeholzten Bäume, es gibt mehr und nicht weniger Nutztiere, und so weiter. Keine der verfügbaren Statistiken passt zur Rhetorik, so wie die beschlossene Politik nicht zum Ernst der Lage passt.

Dieses „Immer weiter“ wird auch befördert durch die Hoffnung, an die allerorten appelliert wird. Die Hoffnung, dass es am Schluss doch irgendwie alles gutgehen wird. Dass die Menschheit plötzlich und wundersamerweise das Richtige tut. Dass die Nationalstaaten umsteuern, de facto eine funktionierende Weltklimaregierung installieren. Dass die Institutionen des Kapitalismus plötzlich von der Ausbeutung ablassen, für deren Ausweitung sie ins Leben gerufen worden sind.

Diese Art der Hoffnung hindert uns, die Komfortzone des „Irgendwie weiter so“ zu verlassen und wirklich und radikal loszulassen.

Ich werbe deshalb dafür, dass wir alle Hoffnung fahren lassen. Nur wenn wir die Möglichkeit einer Rückkehr in eine leichtgängigere Gegenwart oder auch nur das Aufrechterhaltens des Status Quo gänzlich ausschließen, werden wir auf sinnvoll handeln können.

Die Zeit verlangt danach, dass wir unsere Angst ernst nehmen, uns wahrhaft bedroht fühlen, die Unmittelbarkeit unserer Sterblichkeit zu realisieren. Das ist Voraussetzung, um ins Handeln zu kommen.

Gut gemeinte Anliegen hinterfragen

Dazu gehört, dass wir bereit sind, unsere gut gemeinten Anliegen radikal zu hinterfragen. Immer wieder beobachte ich, wie diejenigen, die die Welt retten wollen, letztlich ungewollt zu ihrer weiteren Zerstörung beitragen.

In der Öffentlichkeit stellt sich immer häufiger die die Frage, wie wir die menschengemachte Ökosystemkrise umkehren oder zumindest stabilisieren können.

Dass ist zum einen die falsche Frage. Zum anderen liegt ihr eine Haltung zugrunde, die — ohne das zu wollen — unseren Zerstörungseifer stabilisiert.

Was meine ich damit?

Erstens erleben wir keine Krise. Krise legt nahe, dass etwas vorbeigeht. Aber die Wesensart des Anthropozäns ist ja gerade, dass viele der menschengemachten Ökosystemdynamiken nicht zu lösen oder gar zu beenden sind.

Anders gesagt: Die Lage wird garantiert schlimmer, selbst wenn wir jetzt alles richtig machen. Das ist der Grundzustand dieses menschengemachten Zeitalters, und ihn gilt es anzuerkennen.

Zweitens störe ich mich an der Hybris, die sich im hoffnungsvollen Rettungsdenken häufig widerspiegelt. Wollen wir wirklich in derselben Haltung retten, mit der wir alles zerstört haben?

Seit der Neuzeit verstehen wir uns im Westen als Individuen, die durch ihr Handeln die Welt ordnen und gestalten. Wo wir bislang entschieden haben, dass wir erobern, plündern und ausbeuten, wollen wir jetzt wiedergutmachen, zurückgeben, heilen. Letzteres ist mir lieber als Ersteres. Aber es bleibt dabei, dass in unserem Selbstbild wir es sind, die ordnen. Dass wir die Natur als Objekt erkennen, nicht als Vielzahl von Co-Akteuren.

Diese über Jahrhunderte kultivierte Hybris lässt uns vergessen, dass nicht wir es sind, die Ordnung schaffen. Es sind auch nicht wir, die heilen. Die fragile Ordnung des Ökosystems erschafft sich im Zusammenspiel allen Lebens. Wir tragen im besten Fall einen kleinen Teil dazu bei, diese Bewegung auf heilsame Art zu unterstützen.

Betroffenheit als Voraussetzung einer neuen Anthropologie

Worum es heute geht, ist also nicht Hoffnung. Hoffnung ist süßes Gift. Was wir vielmehr brauchen, ist die Kultivierung der Fähigkeit, mit allen Sinnen wahrzunehmen & betroffen zu sein. Von dem, was wir tun, von dem, was wir waren, von dem, was wir geworden sind — aber auch von dem, was wir sein könnten.

Mit dieser Art von Wahrnehmung und Betroffensein ist eine innere Öffnung verbunden. Diese Öffnung ist Voraussetzung für die Heilung, die vonnöten ist. Und damit meine ich eben nicht die Heilung „der Natur“ oder „des Planeten“. Sondern die Heilung unserer selbst. Geheilt sind wir als moderne Menschen erst dann, wenn wir unseren Glauben überwinden, als Mensch nicht zur Natur dazuzugehören. Wenn wir aufhören zu Glauben, dass wir irgendwie abseits des Ganzen stehen, nicht Teil des Lebensgewirrs sind, das die fragile Balance hervorbringt, die dem Leben das Leben ermöglicht.

Wenn das gelingt, haben wir das Fundament geschaffen, worum es eigentlich geht: eine Mutation der menschlichen Spezies selbst. Wir stehen vor der dramatischen Aufgabe, unser Selbstverständnis in den Grundfesten neu zu fassen, und uns folglich auch radikal anders ins Verhältnis zu setzen zu all dem anderen Leben, mit dem wir den gemeinsamen Lebensraum teilen. Es geht letztlich also um eine neue Anthropologie, ein neues Bild vom Menschen und der Welt, die er mit erschafft, und die ihm das Leben ermöglicht.

Die grüne Ökonomie ist Teil dessen, das wir zerstören müssen

Das ist groß, schon klar. Aber ich glaube, dass wir nur so aus der vertrackten Wiederholung des Immergleichen in immer neuen Variationen herauskommen, die uns aktuell gefangenhält. Und damit meine ich nicht nur die konventionelle Logik des kapitalistischen Wirtschaftens, die seit ihrer Geburt in die DNA der westlichen Demokratie gefräst ist. Nein, ich meine ausdrücklich auch die Logik der angeblich „grünen“ Ökonomie.

In der grünen Logik gründet diejenige, die etwas Gutes tun will, zum Beispiel ein soziales Business. Diese Firma vertreibt dann Produkte, mit deren Verkauf man einen Gewinn generiert, der dann Gutem zugeführt werden kann.

Das nennt sich dann soziales Business, ist aber — sofern etwas produziert wird — in der ökologischen Wirkung fast garantiert negativ, und damit zwangsläufig auch nicht sozial.

Im grünen Wirtschaften, und leider auch in der grünen Politik, geht es also im Grundsatz genauso weiter wie vorher. Auch hier verkleiden sich Plünderung, Ausrottung und Ausbeutung in ein rettendes Gewand.

Mit dieser Logik werden mit 8 Milliarden, noch vielmehr mit 10 Milliarden Menschen nicht weiterkommen werden. Nur weil wir den Kapitalismus jetzt grün anmalen, ist er noch lange nicht zukunftsfähig.

Regeneration als Gebot der Stunde

Aus dieser Überlegung heraus sollten wir auch hohes Misstrauen mitbringen, wo immer von Nachhaltigkeit die Rede ist. Nachhaltigkeit mag vor zwanzig, dreißig Jahren der richtige Begriff gewesen sein. Heute ist er das nicht mehr. Wir brauchen dringend Regeneration, also das Wiederherstellen von Lebensgrundlagen für alle Erdbewohner. Wir brauchen dafür regenerierte Böden, Wälder, Meere, Flüsse, Moore. Das gelingt nur dann, wenn wirals moderne Gesellschaften neu erlernen, uns in ein langfristig tragbares Verhältnis zur Mitwelt zu setzen.

Nachhaltigkeit mag vor dreißig Jahren das Gebot der Stunde gewesen sein – heute ist sie gleichbedeutend damit, einen unhaltbaren Zustand der allumfassenden Zerstörung zu zementieren.

Ich bringe Regeneration deshalb ins Spiel, weil auch sie ein anderes Menschenbild voraussetzt. Letztlich bricht sie mit dem Menschenbild des aufgeklärten, modernen Individuums. Warum? Weil Regeneration im Kern die Bereitschaft zum bewussten Nicht-Handeln voraussetzt. Wer als Mensch heute die Welt retten will, hat an vielen Stellen die Aufgabe, nichts zu tun. Sich fernzuhalten, still zu sein, nicht zu handeln. Nur wenn das gelingt, ist anderem Leben die Erholung möglich, die wir durch unser Aktiv-Sein, unser Handeln bislang auf kriegerische Weise unterbinden.

Wer nichts tut, hört auf, sich in seiner Bedeutung für das Ganze zu überhöhen. Dieses Nichthandeln ist natürlich auch handeln, aber für unser kulturelles Repertoire ist das was Neues, und ich meine auch, dass es für das moderne Individuum eine unerträgliche Beleidigung ist.

Die Postwachstumsökonomie

Damit komme ich — manche werden denken: endlich — zur Postwachstumsökonomie, der Überschrift dieses Konferenztages.

Ich teile die Kernidee, dass die Beschränkung unabdingbarer Teil jeder zukunftsfähigen und wahrhaft freien menschlichen Zivilisation ist.

Und trotzdem misstraue ich diesem Begriff. Denn er hat das Potenzial, uns in Nebendebatten festzuhalten und abzulenken vom Wesentlichen.

Wo liegen meine Vorbehalte?

Zum einen ist dieser Begriff so, als würde man einem Sexsüchtigen von einem Leben ohne Sex vorschwärmen. „Dein Postsexleben kann doch auch schön werden.“ Aber der Sexsüchtige will nun mal Sex. Und so ist es mit Wachstum auch. Wir sind süchtig nach Wachstum, also nach Zerstörung, Ausbeutung, Plünderung — und alle unsere Systeme sind auf diesem Prinzip aufgebaut. Das sollten wir anerkennen.

Das heißt auch, dass wir uns nicht einreden, dass wir diese Sucht in der Hand haben. Sie hat uns in der Hand. Auch weil der moderne Staat diese Sucht seit seiner Gründung voraussetzt und befeuert.

Wichtiger ist mir aber, dass es im Kern doch nicht um die Frage geht, welches Wirtschaftssystem wir wollen. Es geht darum, wie wir uns als Menschheit schnellstmöglich in ein paradigmatisch anderes Verhältnis zur Mitwelt setzen können. Es geht also im Kern nicht um die Ökonomie, sondern um eine neue Anthropologie und die Verfasstheit der menschlichen Gesellschaften.

Lasst uns also, wenn wir über die Postwachstumsökonomie sprechen, darüber reden, welchen Grundprinzipien wir uns als Gesellschaft verschreiben müssen, um in der längeren Frist überlebenslebensfähig zu sein.

In meinem Buch Unlearn schlage ich einen neuen Daseinszweck für demokratische Gesellschaften vor. Die moderne Demokratie hat das kurzfristige materielle Wohlergehen es Individuums in seinen Fokus gestellt.

Die Demokratie des Anthropozäns muss diesen Daseinszweck transzendieren.

Klar, das individuelle Wohlergehen ist weiter wichtig. Es muss aber vereinbar sein mit

  • dem unmittelbaren Wohlergehen aller anderen Erdbewohner
  • und dem Wohlergehen allen kommenden Lebens

Das bedeutet, dass die Demokratie des Anthropozäns ihr Handelns zwangsläufig in die Grenzen des Ökosystems zurückführt. Das hat Verzicht und Beschränkung zwangsläufig zur Folge.

Die Wirtschaft ist somit kein losgelöstes System, sondern Mittel zur Realisierung dieses demokratischen Daseinszwecks. Ansonsten wedelt der Schwanz mit dem Hund.

All das, schon klar, fällt nicht vom Himmel. Es setzt das andere Welt- und Menschenbild voraus, über das ich vorhin gesprochen habe. In anderen Worten: ohne anderes Bewusstsein keine andere Gesellschaft. Ohne andere Gesellschaft keine andere Ökonomie.

Was tun?

Es ist also ein weiter Weg. Vielleicht schaffen wir es nicht, ihn zu gehen. Aber es lohnt loszulaufen.

Jetzt stellt sich die Frage: was bedeutet das für uns, hier und heute, aber auch über den heutigen Tag hinaus? Ich will zum Schluss sieben Antworten skizzieren, in deren Realisierung ich mich selbst auch noch übe:

1. Lasst uns anerkennen, dass das Anthropozän ein Zeitalter des Übergangs ist, das uns zwingt, wieder ganz vorn anzufangen. Wer heute nach Stabilisierung strebt, perpetuiert das Paradigma der Zerstörung. Wer wirklich etwas verändern will, muss bereit sein zum grundlegenden Loslassen.

2. Lasst uns Mut zu grundsätzlichen, spirituellen Fragen haben. Wozu sind wir auf diesem Planeten? Was ist die Rolle des Menschen im Anthropozän? Was müssen wir verlernen, um neu anfangen zu können? Wie sähe eine heute geschriebene Verfassung für die nächsten zweihundert Jahre aus? Diese großen Fragen helfen uns, nicht in Nebensächlichkeiten und dem betäubenden Kleinklein des politischen Tagesdiskurses verlorenzugehen. Nur wenn solche Fragen stellen, können wir bewusst entscheiden, für welche Antwort wir uns engagieren.

3. Aktuell sind fast alle gesellschaftlichen und ökonomischen Grundeinstellungen so gestellt, dass Zerstörung incentiviert wird. Lasst uns deshalb auf radikale Reformen drängen, die zukunftsfähige Grundeinstellungen unserer Systeme ermöglichen. Das gilt politisch, aber es gilt auch mit Blick auf die Beratung unserer Kundinnen und Kunden.

4. Lasst uns verstehen, dass wir uns in einem existenziellen Krieg befinden, und lasst uns benennen, wer unsere Feinde in diesem Krieg sind. Wer bedroht uns und andere Erdbewohner im besonders intensiven Sinne in unserem Fortbestand? Wer sich hier ehrlich macht, hat schnell eine lange Liste beisammen. Darauf stehen: Fossile Energieunternehmen, Automobilkonzerne, die konventionelle Agrarindustrie, manche Länderregierung, aber auch Einrichtungen, die sich im Bereich des Geoengineering engagieren. Diese Feinde bekämpfen wir — und im mindesten arbeiten wir nicht für sie.

5. Die Regeneration der Ökosysteme braucht die Fähigkeit, jenseits der eigenen Lebenszeit zu denken und handeln. Regeneration braucht Jahrzehnte, meist Jahrhunderte, oft Jahrtausende. Wir müssen uns deshalb im Kathedralendenken üben: Welche Kathedralen können wir, jede und jeder von uns, anfangen zu bauen, im Wissen, dass sie zu unserer Lebenszeit nicht fertig wird? Beim Bau welcher Kathedralen können wir helfen, im Wissen, dass wir nur einen kleinen Teil zum Gesamtkunstwerk beitragen können?

6. Lasst uns einer größeren Sache anheimstellen. Dabei hilft das, was ich demütigen Größenwahn nenne. Im Wissen darum, dass wir nur einen kleinen Beitrag leisten, streben wir nach grundsätzlichen Veränderungen. Wir stellen uns den Freibrief aus, zu allem denken und zu sprechen; Wir gehen Themen in aller Breite und Größe an, ohne zu denken, dass wir sie deshalb beherrschen. Wir sind radikal, im Sinne des Fokus auf das Grundsätzliche.

7. All das geht am ehesten dann auf schlüssige Weise in ein größeres Ganzes auf, wenn wir selbst einen Rhythmus leben, der regenerativ ist. Ein Rhythmus, der die Substanz pflegt und anreichert, anstatt meist von ihr zu zehren. Ein Rhythmus, der die spirituelle Anbindung ans größere Ganze kultiviert, statt sich im Fokus auf das Materielle, Messbare zu verlieren. Ein Rhythmus, in dem wir Selbstliebe entwickeln können. Selbstliebe, die es braucht, um sagen zu können: Was ich mache, ist nicht so wichtig.

Diese Keynote ist u.a. inspiriert durch Bruno Latour, Cal Flyn, N.K. Jemisin, und schreibt Themen meiner Keynote auf der Innocracy 2021 fort.

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