Spiritualität und Politik?

Warum gesellschaftliche Transformation spirituelle Sensibilität braucht

Hanno Burmester
6 min readJun 28, 2019

Wenn ich im politischen Raum ankreide, dass Deutschland politisch entkernt ist, dann tritt peinliches Schweigen ein. Wenige Stichworte lösen bei politisch Aktiven größere Ratlosigkeit aus als Spiritualität. Was hat das denn mit Politik zu tun? Wir sind doch faktenbasiert, rational, jenseits des Esoterischen…

Dabei wird heute Tag für Tag klar, dass die Perspektive des Materiellen und Messbaren nicht genug ist. Am besten (schlimmsten) zeigt das die ökologische Krise. Ist die systemische Selbstzerstörung nicht letztlich das ultimative Symptom einer spirituellen Achtlosigkeit? Die Verletzung der Welt ist letztlich die Verletzung unserer selbst – und das normalisierte Zerstören Ausdruck einer kultivierten Blindheit, unseren eigenen Wünschen und Bedürfnissen gegenüber, aber natürlich auch den Bedürfnissen derjenigen, die sich nicht menschlich artikulieren können (andere Spezies zum Beispiel).

Spirituelle Fragen: wesentlich und nie mit Sicherheit beantwortbar

Spirituelle Fragen sind die großen Fragen, die nie mit Sicherheit beantwortbar sind: Wofür leben wir? Was ist der Sinn unseres Daseins, individuell und kollektiv?

Um diese Fragen geht es heute. Weil die aktuell gültigen Antworten — für unseren Wohlstand; für das Erfüllen unserer individuellen Bedürfnisse – offensichtlich über die Grenzen des Ertragbaren ausgereizt worden sind.

Aktuell haben wir weder Ausdruck noch Zugang zu der Angst und der Scham über das, was unsere Gesellschaften in dieser Welt verursachen. Wir finden keine Worte für die drängende Frage, wie es uns zustehen kann, als globale Minderheit innerhalb eines historischen Wimpernschlags das Ökosystem nicht nur zu unterjochen, sondern auf irreparable Weise in seinem perfekten, selbstorganisiserten Chaos zu stören. Wir stehen ratlos vor der Frage, wie die Freiheit der Wenigen die Unfreiheit der Anderen bedingen kann — und wie eine Gesellschaft, die auf die Ideale von Würde und Gleichheit gebaut ist, selbige Werte qua Wirtschaftssystem und nachgeordneten politischen Weichenstellungen global derart mit Füßen treten kann. Wir verschließen fortwährend das Herz vor uns selbst, während wir auf kognitiver Ebene längst benennen, was das Problem ist.

Ein kollektiver blinder Fleck

Wir haben, in anderen Worten, einen kollektiven blinden Fleck an der Stelle geschaffen, wo unser spirituelles Bewusstsein sitzen sollte. Das Bewusstsein also, das die elementaren Fragen unseres Lebens stellt, die keine externe Autorität je an unserer Statt beantworten kann: Wofür sind wir hier? Was ist unser Beitrag als Einzelne und als Gesellschaft, bevor wir sterben? In welchem Verhältnis stehen wir zum Großen Ganzen um uns herum? Was unterscheidet uns im Kern von unseren Mitmenschen und den Lebewesen um uns herum? Was trennt uns vom Untrennbaren?

Würden wir uns diesen Fragen zuwenden, müssten wir den Diskonnekt schließen, der aktuell zwischen kognitivem Wissen und konkretem Tun steht. Anders als viele im politischen Raum meinen, mangelt es weder an Information noch an Wissen, wenn wir auf die globalen Krisen unserer Zeit blicken. Es mangelt an Zugang zu den Grundlagen unseres Lebens, an höherem Bewusstsein für den Platz, der uns als Mensch und Gesellschaft zusteht.

Gelegenheit zum Deep Dive: Spiritualise

Ich könnte lange über dieses Thema schreiben, aber zum Glück hat es jemand anderes schon getan. Jonathan Rowson, heute Direktor des Londoner Think Tank Perspectiva, hat in seiner Zeit bei der RSA einen großen Report zur Rolle spiritueller Sensibilität in der Politik geschrieben. Im Democracy Lab des Progressiven Zentrums haben wir ihn übersetzt und auf Deutsch veröffentlicht. Mein Vorwort zur deutschen Ausgabe findet Ihr im Anschluss an diesen Absatz, die deutsche Version hier (und die englische hier).

Vorwort zur deutschen Ausgabe

von Hanno Burmester, Policy Fellow, Das Progressive Zentrum

Spiritualise ist ein Text, der mit gewohnten Mustern bricht. Er ist lang, wo Texte kurz zu sein haben. Er ist komplex und an manchen Stellen schwierig, wo alles reduziert und einfach zu sein hat. Und er spricht im Kontext des Politischen über Themen, über die im politischen Raum üblicherweise nicht gesprochen wird.

Wir haben uns bewusst entschieden, Spiritualise gerade ob seiner Sperrigkeit und seiner Musterbrüche als Teil der Arbeit im Democracy Lab zu übersetzen und einem deutschen Publikum bekannt zu machen. Der Grund: Ein Teil der Arbeit des Democracy Lab besteht seit dem Tag der Gründung darin, über die mentalen Modelle und kulturellen Grundlagen unserer Demokratie zu sprechen. Spiritualise leistet hierzu einen äußerst wichtigen Beitrag.

Unsere Demokratie allgemein — und der professionalisierte politische Raum im Besonderen — haben über lange Zeit Muster etabliert, die beiden jahrzehntelang zu einer bemerkenswerten Konsolidierung verholfen haben. Beispiele sind mechanistisches, rationalistisches Lösungsdenken, auf Kontinuität und Inkrementalität angelegte institutionelle Strukturen, die Kultivierung eines auf Beweisbarkeit, binär ausgelegten Diskurses im Rahmen des demokratischen Mehrheitsprinzips.

Heute sehen wir uns einer mit Hilfe dieser Muster verursachten, existenziellen ökologischen Krise ausgesetzt. Sie paart sich mit einer sozialen Krise. Der politische Diskurs widmet sich beiden Krisen ausführlich — ohne dass dies irgendetwas an den Mustern unseres Alltagslebens, unserer Gesellschaft und unseres Politikmachens ändern würde.

Der Grund für diesen Diskonnekt ist meiner Ansicht nach, dass wir weder über Zugang noch Worte zu den spirituellen Grundlagen dieser Krisen verfügen. Wenn wir den Gedanken ernst nehmen, dass wir vor adaptiven Herausforderungen stehen — also nur Lösungen finden können, wenn wir bereit sind, uns im Entwickeln der Lösung bis in den Kern selbst zu verändern — ist es vielleicht an der Zeit, als Teil der anstehenden Transformation die spirituelle Verödung und Vereinsamung der modernen und postmodernen Gesellschaft hinter uns zu lassen.

Tatsächlich ist es eine spirituelle Krise, die in enger Wechselwirkung mit der ökologischen und sozialen Krise steht. Ja, vielleicht bedingt sie die beiden gar, als lang zurückreichende, zugrundeliegende Metakrise unserer Gesellschaften.

Aktuell haben wir weder Ausdruck noch Zugang zu der Angst und der Scham über das, was unsere Gesellschaften in dieser Welt verursachen. Wir finden keine Worte für die drängende Frage, wie es uns zustehen kann, als globale Minderheit innerhalb eines historischen Wimpernschlags das Ökosystem nicht nur zu unterjochen, sondern auf irreparable Weise in seinem perfekten, selbstorganisiserten Chaos zu stören. Wir stehen ratlos vor der Frage, wie die Freiheit der Wenigen die Unfreiheit der Anderen bedingen kann — und wie eine Gesellschaft, die auf die Ideale von Würde und Gleichheit gebaut ist, selbige Werte qua Wirtschaftssystem und nachgeordneten politischen Weichenstellungen global derart mit Füßen treten kann. Wir verschließen fortwährend das Herz vor uns selbst, während wir auf kognitiver Ebene längst benennen, was das Problem ist.

Wir haben, in anderen Worten, einen kollektiven blinden Fleck an der Stelle geschaffen, wo unser spirituelles Bewusstsein sitzen sollte. Das Bewusstsein also, das die elementaren Fragen unseres Lebens stellt, die keine externe Autorität je an unserer Statt beantworten kann: Wofür sind wir hier? Was ist unser Beitrag als Einzelne und als Gesellschaft, bevor wir sterben? In welchem Verhältnis stehen wir zum Großen Ganzen um uns herum? Was unterscheidet uns im Kern von unseren Mitmenschen und den Lebewesen um uns herum? Was trennt uns vom Untrennbaren?

Würden wir uns diesen Fragen zuwenden, müssten wir den Diskonnekt schließen, der aktuell zwischen kognitivem Wissen und konkretem Tun steht. Anders als viele im politischen Raum meinen, mangelt es weder an Information noch an Wissen, wenn wir auf die globalen Krisen unserer Zeit blicken. Es mangelt an Zugang zu den Grundlagen unseres Lebens, an höherem Bewusstsein für den Platz, der uns als Mensch und Gesellschaft zusteht.

Jonathan Rowsons Text ist wichtig, weil er mit den Mitteln der Ratio und mit den Werkzeugen der aktuellen Wissenschaft erläutert, weshalb das Spirituelle einen Platz im öffentlichen, offiziellen gesellschaftlichen Diskurs braucht — weshalb das Spirituelle nicht mit dem Esoterischen zu verwechseln ist — weshalb wir als Mensch ein Grundbedürfnis nach spiritueller Praxis haben — weshalb die adaptiven Herausforderungen unserer Zeit nicht ohne sprituelle Sensibilität zu lösen sein können.

Wir können nicht weitermachen wie bislang — Spiritualise ist ein Mosaikstein im langsam entstehenden Bild, wie es stattdessen gehen kann. In Großbritannien hat der Text zu erheblichen Reaktionen im politischen Raum und Vorfeld geführt. Ich wünsche mir sehr, dass dies im spirituell mindestens ebenso entkernten Deutschland ebenso geschieht.

Wir danken Jonathan Rowson und Tomas Björkman, die die Übersetzung und Drucklegung der vorliegenden Ausgabe mit unterstützt haben. Wir danken zudem dem Bundesministerium für Familie, Jugend, Senioren, Frauen und Jugend, ohne deren Förderung im Programm „Demokratie Leben“ das Democracy Lab seine wichtige Arbeit nicht auf diese Weise machen könnte.

--

--

Hanno Burmester

Thinking about system change; Author and organisational developer. More@hannoburmester.com